spaziergangswissenschaft (promenadologie)

spaziergangswissenschaft (promenadologie)

Die in den 1980er Jahren durch Lucius und Annemarie Burckhardt begründete Promenadologie hat zum Ziel, die Umwelt neu wahrzunehmen und sich bewusst zu werden, «…dass die Landschaft nicht in den Erscheinungen der Umwelt zu suchen ist, sondern in den Köpfen der Betrachter» (Lucius Burckhardt, Warum ist Landschaft schön?, Die Spaziergangswissenschaft. Berlin 2006, p. 33). Der Spaziergang – seines nostalgischen Tenors entledigt – dient dabei zugleich als Werkzeug und als Ort der Aktion und Vermittlung. Das Zu-Fuss-Gehen bietet ideale Voraussetzungen für eine Wahrnehmungsweise, die für Burckhardt die Grundlage jeder Erkenntnis war: es geht um den direkten körperlichen Kontakt mit dem realen Raum und der Zeit. Um die Diskrepanz zwischen Vorstellung und vorhandener Landschaft deutlich zu machen, veranstalteten Lucius und Annemarie Burckhardt 1987 zur documenta 8 «Die Fahrt nach Tahiti». Auf Brachen rund um Kassel spazierend, rezitierten die TeilnehmerInnen die Geschichte der Entdeckungen Captain Cooks aus dem Tagebuch von Georg Forster. Burckhardt sieht einen Spaziergang als eine Folge von Stationen, an die wir uns im Nachhinein erinnern. Durch die Verfremdung werden die Vorbilder bewusst, und die so plötzlich sichtbare Natur in der Stadt oder an ihren Rändern tritt ins Bewusstsein.

Verschiedenste AkteurInnen im Umfeld von Kunst, Soziologie und Ethnologie beziehen sich heute auf Burckhardts Schriften und veranstalten Spaziergänge mit Publikum. Sie führen diese durch in Industriebrachen (Christian Ratti), machen mit technischen Geräten elektromagnetische Felder hörbar (Christina Kubisch) oder entwerfen Geh-Übungen (Marie-Anne Lerjen). Das «Institut für Raumexperimente» des Studio Olafur Eliasson, das der Universität der Künste in Berlin angegliedert ist, veröffentlichte auf ihrer Website Übungen des Gehens mit der Bitte, Dokumentationen solcher Spaziergänge an das Institut zu senden. Die Auseinandersetzung mit dem Raum durch das Spazieren führte in verschiedenen Fällen zu Spaziergangsführern, mit deren Hilfe das Publikum selber entsprechende Spaziergänge unternimmt. Andres Bosshards «Stadt hören – Klangspaziergänge durch Zürich» entstand auf der Grundlage seiner Führungen, in denen er in der Stadt Räume aufsucht, an denen er den Zusammenhang zwischen der Architektur, den Materialien und dem dadurch unterschiedlichen Klang vorführt. Das Prinzip des Reiseführers nimmt die englische Künstlergruppe «Wrights & Sites» auf und verfasst sogenannte «Mis-Guides», die mit Desinformation, Zitaten zum Spazieren und Vorschlägen für Kombinationen innerer und äusserer Bilder neue Sichten auf das Bekannte erzeugen.

Die Bücher Lucius Burkhards erscheinen im Martin Schmitz Verlag Berlin. Schmitz hat 2013/14 eine Gastprofessur in Kassel inne und veranstaltet im Mai 2014 an der Kasseler Hochschule die «Lucius Burckhardt Convention». Am Institut Lehrberufe Gestaltung und Kunst der FHNW HGK untersucht 2014 bis 2016 ein Team im Forschungsprojekt «Grenzgang – Künstlerische Untersuchungen zur Wahrnehmung und Vermittlung von Raum im trinationalen Grenzgebiet» den trinationalen Grenzraum um Basel spazierend. Das Projekt wird gefördert durch den Schweizerischen Nationalfonds. Ebenfalls 2014 sind die Ideen Lucius Burckhards Inhalt des Schweizerischen Pavillons an der Architekturbiennale in Venedig. Ausstellungskurator ist Hans-Ulrich Obrist, das Design der Ausstellung gestaltet das Architekturbüro Herzog & De Meuron. Burckhardt wird hier dem englischen Architekten Cedric Price gegenübergestellt.

Die Promenadologie erweist sich also als zeitgemässes Instrument, um über Landschaft, aber auch über Raumerfahrung im Allgemeinen nachzudenken und zu diskutieren und so Argumentationen zu entwerfen für die Raumplanung, Landschaftsgestaltung und Nachhaltigkeit einerseits als auch ein neues Denken über Raum andererseits.

Hier finden Sie eine Liste von Kunst- und Kulturschaffenden, die in ihrer Arbeit auf vielfältige Art und Weise den Spaziergang nutzen.